Ich hatte heute das Vergnügen die Jahreswirtschaftsberichte des Bundesverbandes der phonographischen Industrie seit dem ersten Erscheinungsjahr 1960 auswerten zu dürfen; vor allem interessierte mich die Entwicklung der Verkaufszahlen von Compact Cassetten bzw. ‘MusiCassetten’ (MCs). Ein Seiteneffekt war, dass ich das Aufkommen und den Verlauf der wohl ersten Kopier-Hysterie der Urheber- bzw. Verwertungsrechte besitzenden Klasse in ihren eigenen Worten nachvollziehen konnte. Meine Erkenntnisse:
Eine empfindsame Industrie und der Tonträgerabsatz von Norwegen
1969 wird die MusiCassetten erstmals von der Industrie als relevantes Medium empfunden und im Jahresbericht aufgeführt, es werden ca 1.75 Mio. Stück verkauft, davon die Hälfte ins Inland. In den folgenden Jahren steigern sich diese Anteile beständig, wobei die MC im Laufe der Zeit einen immer größeren Anteil am Wachstum der Stückzahlen des Tonträgermarktes hat. Nicht so groß ist ihr Beitrag zum Umsatz dieses Marktes, ist sie doch klar ein ‘Niedrigpreismedium’. 1977 fällt der phonographischen Industrie dann auf, dass ja auch Leerkassetten verkauft werden. Immernoch kann sie ein hübsches jährliches Wachstum aufweisen, ist aber der Meinung:
Besonders schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen, deren Gewicht ständig steigt, haben das private Mitschneiden von Tonträger-Repertoire und die Tonträger-Piraterie. Die sich daraus ergebenden Probleme werden von den Tonträgerherstellern in steigendem Maße empfunden: Die vorliegenden Marktergebnisse sind davon mitgeprägt.
In den folgenden Jahren geht es ordentlich rund; 1978 stagniert der Kassettenmarkt erstmalig, und der Kampf der Leercassette wird aufgenommen:
Er beträgt 1978 29,2 % gegenüber 29,3 % im Vorjahr, ein deutliches Alarmzeichen für die Folgen des Vormarsches von Leercassetten. Private Mitschnitte auf Leercassetten sind, wie eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Untersuchung der Gesellschaft für Marktforschung beweist, zu einem der wichtigsten Träger für die Verbreitung von Musik geworden. Die so gut wie kostenlose Nutzung der urheberrechtlich geschützten Leistungen stellt für den Musikmarkt eine ernste Bedrohung dar. Die geforderte Abgabe auf Leercassetten darf nicht verzögert werden…
1979 fällt ihr auf:
Mit den 1977 in der Bundesrepublik verkauften Leercassetten hätten alle im Jahr 1977 verkauften bespielten Tonträger (das waren 178,4 Millionen Stück) mitgeschnitten werden können. Es steht zu befürchten, daß unter den heutigen Verhältnissen sogra noch zusätzlich Platz wäre für den Tonträger-Absatz eines Landes wie etwa Norwegen.
1983 schließlich, in dem Jahr, in dem erstmals auch die CD aufgeführt wird, haben die Privatkopierer die Macht übernommen:
Privates Kopieren ist bei Musik inzwischen die mit Abstand wichtigste Nutzungsart geworden. Es wird jährlich weit mehr Musik privat kopiert als insgesamt auf Schallplatten und MusiCassetten verkauft werden kann. […] Mit einem geschätzten Jahresabsatz von inzwischen über 100 Millionen Stück ist die Leercassette zum wichtigsten Aufzeichnungsträger für Musik geworden.
Bemerkenswert im internationalen Vergleich ist, dass in Deutschland die MusiCassette nie zum dominanten Musikmedium geworden ist, sondern die Vorherrschaft von der LP gleich auf die CD überging, ganz im Gegensatz z.B. zu den USA, wo Ende der 1980er Jahre weit mehr MusiCassetten verkauft wurden als Platten und/oder CDs. Wer Lust hat, daraus Schlussfolgerungen über die Aufgeklärtheit der jeweiligen Popkultur zu ziehen, ist herzlich eingeladen, das an dieser Stelle zu tun;-)
P.S.: Die meiste Zeit über habe ich es geschafft, meine Blicke von den Jahrescharts, Auflistungen der Goldenen Schallplatten etc. fernzuhalten. Nur einmal war ich leichtsinnig und las, wie sich die Musikindustrie irgendwann in den 1980ern freute, ihre Krise mit Hilfe innovativer Künstler wie u.a. Modern Talking überwunden zu haben…