Es west fort, und fort, und fort…

Die Frage »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« muß erläutert werden. Sie geht von einer Formulierung aus, die sich während der letzten Jahre als Schlagwort höchst verdächtig gemacht hat. Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen.


Daß die Vergangenheit in Deutschland keineswegs bloß im Kreis der sogenannten Unverbesserlichen, wenn es denn so sein soll, noch nicht bewältigt ward, ist unbestritten. Es wird da immer wieder auf den sogenannten Schuldkomplex verwiesen, oft mit der Assoziation, dieser sei durch die Konstruktion einer deutschen Kollektivschuld eigentlich erst geschaffen worden. Unbestreitbar gibt es im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches: Gesten der Verteidigung dort, wo man nicht angegriffen ist; heftige Affekte an Stellen, die sie real kaum rechtfertigen; Mangel an Affekt gegenüber dem Ernstesten; nicht selten auch einfach Verdrängung des Gewußten oder halb Gewußten. So sind wir im Gruppenexperiment des Instituts für Sozialforschung häufig darauf gestoßen, daß bei Erinnerungen an Deportation und Massenmord mildernde Ausdrücke, euphemistische Umschreibungen gewählt werden oder ein Hohlraum der Rede sich darum bildet; die allgemein eingebürgerte, fast gutmütige Wendung »Kristallnacht« für das Pogrom vom November 1938 belegt diese Neigung.

Wir alle kennen auch die Bereitschaft, heute das Geschehene zu leugnen oder zu verkleinern – so schwer es fällt zu begreifen, daß Menschen sich nicht des Arguments schämen, es seien doch höchstens nur fünf Millionen Juden und nicht sechs vergast worden. Irrational ist weiter die verbreitete Aufrechnung der Schuld, als ob Dresden Auschwitz abgegolten hätte. In der Aufstellung solcher Kalküle, der Eile, durch Gegenvorwürfe von der Selbstbesinnung sich zu dispensieren, liegt vorweg etwas Unmenschliches, und Kampfhandlungen im Krieg, deren Modell überdies Coventry und Rotterdam hieß, sind kaum vergleichbar mit der administrativen Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen. Auch diese Unschuld, das Allereinfachste und Plausibelste, wird abgestritten. Das Unmaß des Verübten schlägt diesem noch zur Rechtfertigung an: so etwas, tröstet sich das schlaffe Bewußtsein, könne doch nicht geschehen sein, wenn die Opfer nicht irgendwelche Veranlassung gegeben hätten, und dies vage »irgendwelche« mag dann nach Belieben fortwuchern. Verblendung setzt sich hinweg über das schreiende Mißverhältnis zwischen höchst fiktiver Schuld und höchst realer Strafe. Zuweilen werden die Sieger zu Urhebern dessen gemacht, was die Besiegten taten, als sie selber noch obenauf waren, und für die Untaten des Hitler sollen diejenigen verantwortlich sein, die duldeten, daß er die Macht ergriff, und nicht jene, die ihm zujubelten.

Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (pdf)

5 Responses to “Es west fort, und fort, und fort…”

  1. classless Says:

    Zur Illustration eine Episode aus dem Pausenraum von heute nachmittag:

    Kollege liest im ‘Kurier’ über den als ‘SPD-Nazi’ titulierten ehemaligen Brandt-Berater und seine ihn einholende Vergangenheit, welche hauptsächlich aus einem von ihm als Wehrmachtsoffizier angeordneten Massaker an Zivilisten besteht.

    Die spontane Reaktion des Kollegen ist die, laut die Frage aufzuwerfen, ob er sich selbst “in so einer Situation anders verhalten hätte, wenn es heißt, die tot oder du”. Auf meinen Einwand, es hätte sich um seinen Befehl und eben Zivilisten gehandelt, antwortet er mit der Frage, ob ich denn sicher wäre, daß die ganze Geschichte stimmt. Wiederum wende ich ein, daß in dem Artikel stehen würde, er hätte es ja bereits zugegeben, woraufhin der Kollege tatsächlich fragt: “Haste das auf Tonband?”

    Dieser Kollege ist kein Nazi, aber schlimmer eben: ein Deutscher, der jede Kriegsgeschichte auf sich bezieht und sich alsbald und umstandslos von Zivilisten zu einem Massaker gezwungen wähnt.

    http://myblog.de/classless/art/3166217

  2. Lars Strojny Says:

    Zufall, ein Buch, dass gerade wieder meinen Nachttisch ziert, ist »Erziehung zur Mündigkeit« in dem obiger Vortrag auf dokumentiert ist. Interessant auch, dass Adorno sich relativ deutlich einer Deutung der deutschen Nationalgeschichte als Geschichte »des Speziellen« verwehrt (spricht von einer »angeblich spezifischen Geschichte«, Zitat liefere ich heute Abend gerne nach).

  3. classless Says:

    “deutlich einer Deutung der deutschen” – was für ein Stabreim!

  4. scrupeda Says:

    Ich bin neugierig, Herr Lars…

  5. iterator Says:

    “deutlich einer Deutung der deutschen”

    Die Frage für mich ist, ob das der Wortstamm “deut” hier ethymologisch immer auf die Teutonen zurückgeht und sollte das dann bedeuten, dass Deutlichkeit bzw. Bedeutung etwas dem Deutschen immanentes sei?

    Für die Russen heißen die Deutschen Nemetski. Ich habe mal gehört (keine Garantie), dass Nemetski “die Stummen” heißt. Ist es nicht wunderbar wie das alles zusammenpasst. Ob die Russischen Herren wohl genauso herrlich sind wie die Deutschen und die russischen Damen genauso dämlich?